was vom Tage übrig bleibt

Da saß er nun einsam auf seinem Felsen an der Küste, schaute auf das Meer hinaus und versuchte seine Gedanken zu sortieren.
Der Wind ließ die Wellen sich zu kleinen Schaumkronen aufbäumen, die wie weiße Spitze aussahen. Er dacht nach über sein Leben.
Was wollte er nicht alles erreichen, ein eigenes Haus, eine liebende Frau, lachende Kinder … Nichts außergewöhnliches, eben nur ein ganz normales Leben.
In einem Restaurant, während eines Lehrganges, hatte er sie getroffen. Alle Plätze waren belegt, nur an seinem Tisch waren noch drei Stühle frei. „Entschuldigen Sie bitte, ist hier noch ein Platz frei“, fragte auf einmal eine warme, freundliche Stimme.
Er war noch so sehr in seine Zeitung vertieft, daß er nicht bemerkte, wie sie neben ihm am Tisch stand. Sein Blick ging zu ihrem Gesicht hinauf – was für eine Frau -.
Sie hatte einen kurzen, dunkelhaarigen Bubikopf und trug ein hautenges, schwarzes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. „Bitte, gern“, mehr konnte er bei diesem Anblick nicht sagen.
Sie setzte sich ihm genau gegenüber. Im Schein der Kerze leuchteten ihre rehbraunen Augen wie zwei Sterne in der Nacht. Was für ein Blick, was für ein Gesicht, schnell legte er seine Zeitung zur Seite, um sich ganz seiner Tischdame zu widmen.
„Ich habe Sie hier noch nie zuvor gesehen, Sie scheinen nicht aus dieser Stadt zu sein, denn ein solches Gesicht wäre mir längst aufgefallen.“ Sie zögerte eine Weile mit ihrer Antwort, sei es aus Höflichkeit, vielleicht aber auch, um ihm nicht das Gefühl der schnellen Eroberung zu geben.
„Das stimmt, ich bin hier zu Besuch bei einer Bekannten. Eigentlich komme ich von der Küste.“ Bei diesen Worten wurde er aufmerksam, von der Küste, ein Ort, an dem er so gern wohnen würde, nicht in dem Dreck und Gestank der Großstadt.
Sie kamen beide ins Gespräch und unterhielten sich über ihre Heimat.
Ehe sie es sich versahen, war Gaststättenschluß  und der Kellner fragte höflich, aber bestimmt, ob er kassieren könnte. „Was fangen wir denn nun mit dem angebrochenen Abend an,“ fragte er. „Ich würde Sie gern noch auf ein Glas Sekt in eine Bar einladen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Sehr gern, der Abend ist ja noch jung und auf mich wartet niemand.“ Sie gingen gemeinsam in eine Nachtbar, tranken das eine  und andere Glas Sekt und kamen sich Stück für Stück näher. Auf dem Heimweg stolpert sie über einen Bordstein, er konnte sie gerade noch auffangen. Ihre Köpfe kommen sich dabei so dicht, daß es unvermeidlich war, was dann passierte. Fast in Zeitlupe berühren sich ihre Lippen zu einem langen, intensiven Kuß. „Laß uns zu mir gehen,“ flüstert er ihr leise ins Ohr. Sie hakt sich bei ihm unter und legt ihren Kopf auf seine Schulter, da bedarf es keiner Worte mehr. Was dann passiert, ist ein einziges Spiel der Phantasie.

Ein paar Monate später.

Er ist zu ihr an die Küste gezogen, sie wohnen bei ihren Eltern in einem echten Bauernhaus, das mit Schilf gedeckt ist. Am Haus befindet sich ein alter Stall und gleich daneben eine Scheune. Zum Meer ist es nur eine gute halbe Stunde Fußweg. Jede freie Minute gehen sie beide dorthin spazieren. Ein Felsen direkt am Wasser hatte es ihm besonders angetan. Hier nahm er immer Platz, um von dort aus den Wellen und der See zuzusehen. An diesem Tag aber treibt ihn etwas ganz Anderes hinaus. Sein Arzt hatte ihm geraten, er solle doch in Zukunft kürzer treten, denn sein Herz würde die ständigen Anstrengungen der Arbeit nicht mehr richtig verkraften. Wenn er so weiter macht, wird er das nächste Jahr nicht mehr überleben. Diese Gedanken quälen ihn und er traut sich nicht, sie seiner Gefährtin zu sagen. Ein Spaziergänger kommt an ihm vorbei. Es ist der alte Hansen von nebenan, der grüßt, bekommt aber keine Antwort und geht auf ihn zu. Wie er ihn gerade anstoßen will, fällt er von seinem Stein herunter und liegt tot da. Nicht einmal den Untergang der Sonne hatte er noch erlebt und dabei liebte er gerade diesen so sehr. Er hatte wohl seine Rechnung mit dem Schöpfer bereits gemacht, denn er lächelte noch im Tod.