Tränen

Regentropfen prasseln gegen die Scheiben des Autos, die Nacht ist stockfinster. Der Scheibenwischer hat Mühe seine Arbeit zu tun. Grelle Lichter vom Gegenverkehr blenden ihre Augen. Nur mit Mühe schafft sie es, den Wagen auf der Straße zu halten, dennoch verringert sie ihre Geschwindigkeit nicht. Ihre Gedanken sind bei ihm. Seine letzten Worte am Telefon waren, „Du kommst zu spät“. Was wollte er ihr sagen, was sollte dieser Satz bedeuten? Hatte sie eine Verabredung vergessen oder wollte er ihr zu verstehen geben, dass ihre Beziehung zu Ende ist? Sie wollte Klarheit. Der Schlüssel des Wagens lag noch auf dem Küchentisch, dort, wo sie ihn nach dem gestrigen Abend liegen gelassen hatte. Er war die ganze Zeit schon so anders in seinen Worten, so vorsichtig, fast zurückhaltend. Bei jedem Satz schien er zu überlegen, wollte ihr wohl etwas mitteilen und tat es dann doch nicht, aus Angst, sie würde ihm eine Szene machen. Dabei hatte sie es schon lange gespürt, etwas ging in ihm vor. Ihr schönes Kartenhaus, das sie sich mühsam aufgebaut hatte, begann zusammenzubrechen. Er hatte die wichtigste Karte herausgerissen. Selbst Schuld, dachte sie so bei sich, warum musste sie sich auch ausgerechnet in diesen Mann verlieben, wo sie doch von Anfang an wusste, dass er ihr das Herz bricht, dass ihre Liebe nur einseitig sein würde, ihre Ansichten zu verschieden, seine Vernunft zu groß. Jeder hatte so seine Probleme im eigenen Umfeld zu bewältigen, doch nur sie fand die Zeit, aus dem alltäglichen Trott auszubrechen. In der Ferne waren Lichter zu erkennen. Wie ein Schleier lag die Reflexion der tausenden Laternen der Straßen über der Stadt. Nur noch wenige Minuten und sie würde wissen, was er mit seinen Worten ihr hatte sagen wollte. Vor seinem Haus war schon von Weitem das Blaulicht eines Krankenwagen zu erkennen. Sie dachte sich nichts bei diesem Anblick, denn erst in der letzten Woche wurde die ältere Dame, die über ihm wohnt, wegen eines Herzanfalls abgeholt. Mit ihrem Schlüsselbund, das sie von ihm bekommen hatte, öffnete sie die Haustür. Auf der Treppe kamen ihr zwei Sanitäter mit einer Trage entgegen. Sie ging zur Haustür zurück, um sie ihnen aufzuhalten. Als die Trage ganz dicht an ihr vorbei getragen wurde, erkannte sie darauf ihren Freund und plötzlich schossen ihr seine Worte durch den Kopf. „Du kommst zu spät“, hatte er gesagt, jetzt erst glaubte sie zu wissen, was er meinte. Nun erkannte sie den Grund, weshalb er seine Worte so außergewöhnlich langsam gesprochen hatte. Er wollte ihr damit nicht sagen, dass ihre Beziehung zu Ende war, nein, es war ein letzter Hilferuf. Warum war sie nicht gleich nach seinem Anruf losgefahren, hatte statt dessen noch in aller Ruhe ihren Kaffee ausgetrunken und eine Zigarette geraucht? Sie machte sich schwere Vorwürfe.

Hätte sie vielleicht mit dieser verstrichenen Zeit das Unglück verhindern können? Sie ging der Trage bis zum Krankenwagen nach. Bevor die Türen geschlossen wurden, konnte sie noch die Worte des Notarztes hören, „… da sind wir wohl noch rechtzeitig gekommen …“, dann fuhr der Wagen los. Sie rannte zu ihrem Auto, um ihm hinterher zu fahren. Am Krankenhaus angekommen schnappte sie wieder nur Bruchstücke dessen auf, was der Arzt sagte. „… ein Mann der Tabletten nimmt …“, warum nur, warum hatte er das getan? Sie waren doch gestern Abend noch so lustig gewesen. Er hatte sich mit einem langen Kuss von ihr verabschiedet. Was hatte ihn dazu gebracht, sich das Leben nehmen zu wollen? Schwer waren ihre Schritte zurück zum Auto, sie fuhr durch die Nacht, jetzt konnte sie nicht in die Wohnung fahren, solange sie keine Gewissheit hatte und auf dem Flur des Krankenhauses zu warten, unter all den anonymen Menschen wollte sie auch nicht. An diesem Abend begann es stark zu regnen. Die Fahrbahn war kaum zu erkennen, die Scheibenwischer hatten Mühe mit den Wassermassen fertig zu werden. Unterwegs brach sie in Tränen aus, ihr Gesicht war schon vollkommen nass, ihre Augen verschleiert. So kam es, dass sie die Straße nicht mehr erkannte und in den Graben fuhr. Der Wagen rollte einen kleinen Hang hinauf, kippte um und landete auf dem Dach. Das Letzte, was sie noch hörte, waren die Worte des Notarztes, „ist das nicht die Frau von dem Selbstmordversuch heute Abend“, dann verlor sie das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem weißen Raum. Von der Decke blendete sie das grelle Licht der Neonröhren. Es roch wie in einer Apotheke. Über dem Fußende war ein Gestell aufgebaut, an dem Seile hingen, die eine Art Trage hielten. Darin lag ihr linkes Bein. Ihr rechter Arm war völlig in Gips eingepackt. Da habe ich wohl noch einmal Glück gehabt, denkt sie so bei sich, aber warum bin ich den eigentlich hier? Dies ist doch ein Krankenhaus, wie komme ich hier her? Die Tür geht auf und der Chefarzt kommt mit seinem Gefolge zur Visite. „Hier haben wir den Verkehrsunfall von gestern Abend, sagt einer der Herren in weiß.“ „Na junge Frau, wie fühlen wir uns denn heute, wir haben zwei Stunden gebraucht, um sie wieder zusammen zu flicken. Aber ihre Brüche werden gut verheilen, wenn keine Komplikationen auftreten.“ In ihrem Kopf dreht sich alles, warum Verkehrsunfall? Langsam setzen sich die Bruchstücke wieder wie Puzzleteile zu einem Bild zusammen. „Mein Freund, Herr Doktor, was ist mit meinem Freund. Er wurde gestern Abend mit einer Tablettenvergiftung eingeliefert?“ „Wir hatten gestern eigentlich außer ihnen nur noch eine Einlieferung, das war der Suizidversuch“, sagte der Arzt. „Ich kann ihnen leider noch nichts Genaues dazu sagen, nur soviel, wenn er die heutige Nacht übersteht, dann hat er gute Chancen durchzukommen, aber bis jetzt sieht es nicht gut aus. Die Dosis der Tabletten war einfach zu groß. Es tut mir leid, ich hätte ihnen lieber eine positive Nachricht gegeben.“ Sollte es das Ende ihrer Beziehung sein. Da lagen sie so dicht in einem Haus zusammen und waren doch Welten voneinander entfernt. Sie begann das erste Mal in ihrem Leben zu beten.

Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann lasse nicht zu, daß er stirbt.

Gib ihm die Kraft zu leben, auch wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte,

dies darf noch nicht das Ende sein!“