der Graue

Es war einmal . . .

so fangen bekanntlich alle Märchen an, also, es war einmal ein niedlicher
kleiner Hund.
Der hatte braunes, lockiges Fell, ein Paar schöne große runde Augen und war in seiner
Art der Liebling jedes Menschen. Eines schönen Tages lief er von zu Hause
fort, wollte in die große, weite Welt und endlich auf eigenen Füßen stehen
lernen.
Da traf er auf einem seiner zahlreichen Wanderungen einen anderen Hund. Der
sah so ganz anders aus wie er. Der hatte kurzes, schwarzes Fell, war viel
größer und war auch schon etwas älter. Der Kleine fand Gefallen an ihm und
sie schienen sich miteinander anzufreunden. Auch dem Großen gefiel die
Gegenwart des Kleinen immer mehr und er konnte sich kaum noch einen Tag
vorstellen, an dem die beide nicht miteinander irgend etwas unternahmen. So
entwickelte sich nach und nach eine große Freundschaft zwischen ihnen. Sie
tobten gemeinsam durch die Parks der Stadt, sie suchten sich ein paar stille
Plätze aus, um sich in der Sonne zu aalen und ihre Glieder auszustrecken,
wie eben Hunde so sind, wenn sie sich austoben können und nicht ständig an
irgend welchen Leinen gehalten werden.
An einem schönen Sommertag, die beiden waren wieder einmal im Park, um die
Vögel und Katzen auf Trab zu bringen und ihr Revier abzustecken, begegnete
ihnen ein anderer Hund. Er hatte schon die ersten langen grauen Haare, sah
etwas zerzaust aus und war auch sonst nicht so flink wie sie. Plötzlich
blieb der kleine Hund stehen. Er beobachtete den „Grauen“ ganz genau, was
fazinierte ihn nur so an ihm, daß er seine Augen nicht von ihm lassen konnte,
war es sein Alter? Seine Erscheinung konnte es nicht sein, denn es liefen so
viele schöne, fast gleichaltrige Hunde hier jeden Tag herum, die ein
seidiges, glänzendes Fell hatten. Sie waren alle viel schneller beim Laufen,
konnten richtig stolzieren und sahen auch besser aus. Aber gerade er, er
hatte es ihm angetan, seine Art sich langsam, aber dennoch nicht lahm zu
bewegen, sein ganz eigenwilliger Geruch und dann die Art wie er andere Hunde
beobachtete. Was hatte er nur so faszinierendes an sich? Er ging langsam
aber mit einer gewissen inneren Unruhe und Aufregung auf ihn zu. Ob er sich
überhaupt mit mir abgibt, bestimmt hat er seinen Wurf zu Hause und will
nicht noch so einen Racker wie mich als Freund. Trotzdem ließ er nicht von
seinem Vorhaben ab, denn wer weis, ob er wieder einmal dazu kommen würde
einen solchen Hund zu treffen und ob sich dann überhaupt die Gelegenheit
bietet, mit ihm zu reden. Je dichter er kam, um so höher schlug sein kleines
Hundeherz. Fast wäre er kurz vor ihm doch noch umgedreht, aber dann sprach
ihn der „Graue“ auch schon an und wollte von ihm wissen wo er herkommt,
warum er gerade hier im Park ist und ob er denn nicht Angst hat so allein. Warum allein, dachte der Kleine, sah sich um und bemerkte erst jetzt, daß
ihn sein Freund, der „Große“ verlassen hatte. Seine Knie begannen zu
zittern, aber er beantwortete die Fragen des Grauen brav und bemerkte dabei,
daß dieser eigentlich ja ganz zutraulich war. Keine Spur von
Überheblichkeit, keine Anzeichen von Verärgerung, weil ein so junger Hund
ihn bei seinem Spaziergang gestört hatte. Ganz im Gegenteil, der Graue war
richtig aufgeschlossen und schien sich über die Anwesenheit des Kleinen zu
freuen.
Sie gingen beide ein gutes Stück des Weges gemeinsam und unterhielten sich über Dies und Das,
bis der Graue sagte, daß er nach Hause muß, sein Rudel warte auf ihn.
Als er ging versprach er aber noch sich mit dem Kleinen wieder zu treffen, wann immer er
es wollte, er müsse nur seine Marke an den ersten Baum im Park setzen und
dann wüßte der Graue, daß sie sich am nächsten Tag wieder sehen würden. Den Kleinen hatte diese Art der Unterhaltung stark beeindruckt und so
beschloß er, den Grauen in nächster Zeit wieder zu treffen, nur wann genau
das sein würde, das wußte er noch nicht, denn er war ja noch jung und hatte
noch so viele andere Dinge im Kopf, schließlich gab es noch so viel in
diesem großen Revier zu entdecken. Alsbald hatte er den Grauen vergessen.
Er stromerte jetzt mit vielen Gleichaltrigen herum, machte Heute hier und
Morgen da seine Streiche, wurde zu seinen Freunden eingeladen und hatte
seinen Spaß. In der Zwischenzeit machte sich der Graue Gedanken, hatte er
den Kleinen falsch eingeschätzt, war er auch nur einer der jungen flinken
Bälger, die, ohne an die Zeit zu denken, in den Tag hinein leben? Dabei hatte er ihn doch schon bei ihrem ersten Treffen in sein Herz
geschlossen. Nur konnte er es nicht so zeigen, vielleicht war er doch schon
zu alt, um seine Gefühle für die Anderen nach Außen hin sichtbar zu machen.
Große Vorwürfe plagten ihn, ob es denn richtig war, schließlich gibt es so
etwas wie eine Hundeordnung, nach der die Alten zwar mit den Jungen reden
dürfen, aber Freundschaft, so etwas sollte eigentlich nicht sein. Sollte er
als Rudelanführer dagegen verstoßen, obwohl er genau wußte, daß ihn das
seine Stellung in seinem Rudel kosten könnte? Dennoch, er wollte den Kleinen
wiedersehen und beschloß ihn zu suchen. Er ging das ganze große Revier ab.
Nach langem Suchen fand er ihn schließlich, in einer Ecke hinter der alten
Friedhofsmauer. Vollkommen zerzaust, mit ein paar Bißwunden, die
offensichtlich von einem Kampf mit einem größeren Hund stammten. Die Freude
des Kleinen war übergroß. Er leckte den Grauen an seiner Schnauze und
wedelte mit seinem Schwanz. Endlich war jemand gekommen, vor dem er keine
Angst zu haben brauchte. Was war passiert !?
Nach einer dieser wilden Treffen auf dem Friedhof hatte sich der Kleine mit einem
Älteren angelegt und der hatte ihn ordentlich zurecht „gestutzt“. Keiner
seiner sogenannten Kumpel hatte ihm dabei zur Seite gestanden, alle waren
sie davon gerannt und er blieb mit seinen Wunden allein. Um so größer seine
Freude, daß jetzt der Graue gekommen war, er würde ihm helfen, da war sich
der Kleine sicher. Der Graue versorgte erst einmal die Wunden, ohne ein Wort
dabei zu verlieren. Der Kleine sollte von sich aus sagen, was genau
vorgefallen war, obwohl er die Art der Wunden kannte. Der Ältere  machte
sich gern an die Kleinen heran, um mit ihnen zu raufen und seine Methode war
dabei immer die gleiche. Jedes Mal packte er sie von hinten ins Genick und
riß ihnen ein Stück von ihrem Fleisch heraus. An dieser Stelle konnten sie
sich nicht lecken, um ihre Wunden zu heilen. Sie waren also auf die Hilfe
eines anderen Hundes angewiesen und der war selten zur Stelle. Und so kam
es, daß der Graue, trotzdem er wußte, was passieren könnte, sich um den
Kleinen kümmerte und ihn umsorgte.
Erst viel später würde der Kleine einsehen,
daß er mit dem Grauen einen richtigen Freund gefunden hat,
der ihm in seinem Alter Dinge beibringen konnte, zu denen die
Anderen noch viel Hundejahre Erfahrung benötigen würden.