Frau in schwarz

Blumen, überall ein Meer von Blumen, alle sind zu einem Hügel aufgetürmt. An einigen der Gebinde sind schwarze Spruchbänder befestigt. Auf ihnen stehen mit goldener oder silberner Schrift persönliche Worte, nur für den einen Zweck, sie sollen die Trauer und Anteilnahme all jener Menschen zum Ausdruck bringen, die ihn gekannt haben. Ihn, den so viele glaubten zu kennen, von denen aber nur die Wenigsten wußten, wie er wirklich war, wie er lebte, was er fühlte. Fast unbemerkt von der ganzen Trauergemeinde steht abseits eine junge Frau. Sie ist vollkommen in Schwarz gekleidet, trägt einen schwarzen Schleier, hat darunter eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt, so daß sie von niemandem erkannt werden kann. Die Tränen laufen über ihr Gesicht, bilden schwarze Ränder von der Wimperntusche auf ihrer Haut. Sie trauert im Stillen für sich allein, leise, ohne einen Laut, ohne ein Klagen. Könnte ihr Herz sprechen, es würde schreien, so laut schreien, daß es über den ganzen Friedhof zu hören wäre. Sie war die Einzige, die ihm in seinen letzten Tagen zur Seite stand. Sie sah all diese Heuchler, die sich hier versammelt hatten. All jene, die sich um ihn gescharrt hatten, als er noch gesund war, er sie alle aushalten konnte. Sie hatten ihn in seiner schweren Zeit allein gelassen. Unbemerkt von diesen Schmarotzern hatte sie ihm immer zur Seite gestanden. Er brauchte sie nicht anzurufen, um ihr zu sagen, wie es ihm gerade ging. Nein, sie rief ihn an und an seiner Stimme erkannte sie genau, wie es in ihm aussah. Sie war es, die in seinen Augen die wahren Gefühle erkannte, sie konnte darin lesen, wie in einem Buch.
Und heute, an seinem letzten Gang, auf seinem letzten irdischen Weg, da waren sie alle wiedergekommen. Wohl in der Hoffnung, von dem großen Kuchen noch ein Stück abzubekommen. Und da war ja auch noch die Presse, und die vielen Kameras, die diesen Akt der Trauer „live“ übertrugen. Man wird gesehen, ist in aller Munde, man gehört zum erlesenen Kreis derer, die ihn kannten. Welch ein Hohn für sie. Ein paar Wochen später. Die Blumen waren längst verdorrt. Das Grab war mit kleinen Lebensbaumbüschen umsäumt. Jetzt erinnerte nur noch ein schlichter Stein an ihn. Auf diesem war zu lesen:

„Ihr, die ihr mich zu kenne glaubtet,
denkt an Euch selbst!
Du, die Du mich liebtest,
behalte mich in Deinem Herzen!“